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Konferenz von Marie Luise Syring


Ein Kontrapunkt zur Sachlichkeit

Auszug aus einem Vortrag von Marie Luise Syring, gehalten am 26. September 2006 an der Universität Marc Bloch in Straßburg

1925 macht der Galerist Léonce Rosenberg Marcelle Cahn mit Fernand Léger bekannt. Bald darauf wird sie eine der Schülerinnen von Léger und Amédée Ozenfant in der Académie Moderne.

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Léger wendet sich in jenen Jahren strikt gegen die totale Abstraktion. Er lässt sich von der Welt der Maschinen und der Industrie inspirieren. Er sucht eine Schönheit, die auf Maß und Logik gründet. Maschinell und industriell hergestellte Produkte zeugen von einem geometrischen Willen, sagt Léger. Je logischer die Form eines fabrizierten Objekts, umso schöner ist es und umso identischer mit sich selbst. Das Milieu der Arbeit, die Fabriken, Flugzeuge, Dampfschiffe, Lokomotiven gelten Léger als ebenso poetisch und geeignet für die Kunst wie Violinen oder Blumenvasen. Sie sind das „Interieur“ der zwanziger Jahre. Das gleichmäßige Stakkato der Maschinen, das war sein Vorbild für den gleichmäßigen Rhythmus seiner Formen und Farben. Den Schülern, die sich all zu weit von dieser Realität entfernen, wirft er vor: „Sie wissen nicht, wohin Sie gehen“. Die industrielle Umwelt fasziniert ihn in einem Maße, dass der Mensch darin ein Gegenstand unter anderen Gegenständen wird. Die Harmonie zwischen Mensch und Ding soll zeigen, dass die Technik nicht nur dazu dient zu verwüsten und zu zerstören, wie es die Erfahrung des 1. Weltkrieges war, sondern dass ihr Einsatz dabei helfen kann, eine bessere und demokratischere Welt zu erbauen, befreit von der Tragödie eines Lebens, das dem Zufall und der Willkür unterworfen ist.

Léger, und mit ihm die Puristen, suchen eine Übereinstimmung zwischen der Natur, der Technik und dem Leben, indem sie alles den Regeln der Geometrie unterwerfen. So gleicht auch bei Marcelle Cahn die Form eines Tennisschlägers schon einmal einem Gesicht, Flugzeuge erinnern an Vögel, elektrische Masten oder Kräne mögen Bäumen ähnlich sehen. Und so entsteht das Bild einer Technik und einer Natur, die vom Menschen geordnet und beherrschbar sind.

Als Schülerin von Léger malt Marcelle Cahn Straßen, Häuser, Schiffe und Häfen. Formal bleibt sie dabei puristisch. Aber trotz der Sachlichkeit ihrer Wahrnehmung, trotz der Rationalisierungsversuche durch die Geometrie, wird es ihr nicht gelingen, ihr Ich, das heißt, ihr subjektives Empfinden auszuschalten. Deshalb meine These, dass sich in diesen Bildern etwas Neues auftut: ein Kontrapunkt zur Sachlichkeit.

Wann immer Marcelle Cahn abstrakte Kompositionen zeichnet, verbannt sie Psychologie oder Expressivität. Wenn sie jedoch die Stadt zu ihrem Thema macht, dann taucht etwas Unkontrolliertes auf, ein Ungleichgewicht, ein Unbewusstes, das sich hineindrängt. Die Stadt wird ihr zur Metapher für Einsamkeit und Isolation.

Ihre Städte sind wie ausgestorben, die Straßen ohne Richtung, die Wege führen nirgendwohin. Städte sind feindlich, ablehnend, verbreiten ein Gefühl der Krise. Solche Bilder sind beherrscht von Kälte und von einer Spannung, die man bei Léger oder anderen Zeitgenossen, wie Metzinger und Survage, nicht findet.

Schon die ersten Skizzen Marcelle Cahns haben nichts von dem brodelnden Tumult einer Großstadt. Sie zeigen verlassene Straßen, Mauern ohne Fenster und verschlossene Räume. Diese Orte sind anonym, nicht wieder erkennbar und zeitlos. In einer ihrer ersten Bleistiftzeichnungen fühlt man sich hinein gesogen in eine suggestive Leere. Eine völlig unbelebte Straße flieht, perspektivisch gesehen, seitwärts aus dem Bild, verliert sich in der Weite. Der Blick des Betrachters wird von zwei hohen Häusern und einer kahlen, fensterlosen Seitenwand versperrt. Sehr bald gibt Marcelle Cahn die Perspektive auf. Sie zieht sowohl Flächigkeit als auch Frontalansichten vor. Die Stadt, übersetzt in Kreise, Quadrate, Diagonale und Rechtecke, ist eine künstliche und ökonomische Konstruktion, das Resultat der Suche nach Ordnung und Einfachheit. Gleichzeitig ist sie menschenleer, befreit vom Schicksalhaften, von Freud und Leid, von Hässlichkeit und Unglück, von Menschenmengen und Unfällen.

In ihren Bildern „La rue“, „Les toits“ und „Le dirigeable“ setzt die Künstlerin große Häuserblocks in die Mitte der Komposition. Anstelle der Öffnungen, Türen und Fenster erkennt man große Farbflächen, die verschlossen wirken. Gefängnishafte Gebäude. Die Fenster blind, die Türen schwarze Löcher. Da ist kein Raum für menschliches Leben. Trotz der zarten Farben, die Marcelle Cahn benutzt, sind es wenig einladende Orte, sie wirken unzugänglich wie mittelalterliche Burgen. In „Maison, pont et voilier“ versperren drei große Häuser in fahlem Gelb den Himmel. Das Segel des Bootes ist eingezwängt zwischen zwei Brückenbögen. Der Himmel ist in schmutziges Grün getaucht, undurchdringlich und schwermütig. Schwere Schatten dominieren das Bild. Das Boot ist fest verankert in die umgebende Architektur, kann sich nicht entfernen…

Alle Metaphern des Wunsches nach Flucht, nach Trennung oder Übergang werden aufgehoben oder umgedeutet. Es ist, als ob der Traum sich nicht realisieren dürfte. Das Luftschiff steht still, die Brücken verbinden nichts. Das Flugzeug in „Avion-forme aviatique“ kann nicht fliegen, weil es umzingelt ist. In

„La rame“ sind die Boote so mächtig von Häusern überwölbt, dass sie mehr an Festungen erinnern als an Transportmittel. Das Paddel ragt in die Bildmitte wie ein Hindernis. Der Eindruck wird noch vertieft durch die pyramidale Konstruktion der Komposition. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Begriff für Häuser und Frachtschiffe im Französischen der gleiche ist. Die Welt Marcelle Cahns ist ein unbewohntes Haus (Schiff). Der Mensch ist immer auf Reisen, aber nie abgefahren. Er ist nicht zuhause, und er kommt nirgends an.

Ihre Bilder haben nichts von der Melancholie der italienischen pittura metafisica, weder das Pathos der Futuristen, noch den Sarkasmus der Kritischen Realisten in Deutschland. Sie zeugen von einem rationalistischen Idealismus, in dessen Hintergrund eine Bedrohung lauert. Zunächst war die Stadt für Marcelle Cahn ein Zeichen geistiger Durchdringung der Umwelt durch den Menschen, ein Zeichen seines Ordnungswillens. Unbewusst hat sich ihren Darstellungen ihr persönliches Drama untergeschoben…

Ich würde ihre Arbeiten aus dieser Zeit mit denen der „Progressiven“ in Köln vergleichen: in deren Werken sind Elemente des Expressionismus und des Konstruktivismus enthalten. Sie zeigen die Entfremdung des Menschen in der modernen Welt, sie verurteilen die Gleichförmigkeit der Architektur und die Monotonie des alltäglichen Lebens, und sie decken die negativen Folgen der Mechanisierung auf: vor allem den Verlust der Individualität. Der Architekt Hugo Häring hat 1926 die Stadt mit einem großen Hotel verglichen, in dem wir alle nur auf der Durchreise sind. Ernst Bloch schrieb in den zwanziger Jahren, dass das Leben wie ein Aufenthalt in einem Wartesaal sei. Hotel oder Bahnhof, Orte der Begegnung, aber auch der Anonymität, Orte der Hoffnung oder auch eines nimmer endenden Zustandes der Erwartung. Die „Progressiven“, die mit der Zeitschrift „L’Esprit Nouveau“ in Kontakt standen, haben deren Idealismus kritisiert, dem Léger und die Puristen treu geblieben sind. Dagegen Marcelle Cahn?

Sie hatte keine Neigung zur Gesellschaftskritik oder zu einer Analyse der politischen Lage. Aber ihre Sicht der Dinge ist beunruhigend. Sie beschreibt Räume, die menschenfeindlich und ohne Geschichte sind. Sie beschreibt ein Dasein ohne Bindung, im Draußen. Sie schreibt, so würde ich behaupten, eine Metaphysik des Alleinseins.

Marie Luise SYRING




Stadtrundgang « Auf den Spuren Marcelle Cahns in Straßburg » Klicken Sie hier. Das Büchlein « Rencontres avec Marcelle Cahn» ist herausgegeben. Klicken Sie hier.
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