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Serge Lemoine

 

Das Musée des Beaux-arts von Mulhouse hat im Rahmen der 7. Graphikbiennale in Mülhausen 1986 den " Themen und Variationen " von Marcelle Cahn besondere Beachtung geschenkt.  

In diesem Kontext hat Serge Lemoine, damals Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Dijon, „einen Text über Marcelle Cahn verfasst" (Monique Fuchs).

Hier der Text, den wir mit freundlicher Erlaubnis des Autors noch einmal abdrucken. Für die Genehmigung sei ihm herzlich gedankt.


Marcelle Cahn, die Einzelgängerin

Sie sitzt auf dem Rand ihres Bettes, in dem einzigen Raum, den sie in einem Altersheim in Neuilly bewohnt, sie arbeitet auf ihren Knien, mitten zwischen den mit Zeichnungen gefüllten Kartons und dem Chaos ihres persönlichen Hab und Guts.

Das war 1970. Ihre Medikamentenschachteln, die Briefumschläge, die Fotografien ihrer Werke, all das ist Teil der neuen Arbeitsmaterialien, die sie mit einigen Federstrichen, Erhöhungen durch Kreide und Etiketten in etwas anderes verwandelt. Das Musée des Beaux-arts von Mulhouse erweist Marcelle Cahn eine Hommage mit der Ausstellung eben solcher Arbeiten, die zeigen, auf welch wunderbare Weise sie die Dinge zu transformieren wusste. Einer Malerin also, deren Leben und Werk nicht aufhören, Fragen aufzuwerfen.

Marcelle Cahn hat ihre Studienjahre von 1914 bis 1923 zwischen Berlin und Paris verbracht. An der Académie Moderne in Paris ist sie von Fernand Léger et Amédée Ozenfant nachhaltig geprägt worden, denn selbst ihre linearen Kompositionen der 1950er Jahre bezeichnet sie noch als „eine puristische Form der geometrischen Abstraktion". Sie fand in deren Kunst, wie in der von Willi Baumeister, das, was sie eine absolute Form genannt hat, weil das Figürliche bei ihnen schon abstrakt war, jedoch „menschlich" blieb. So erklären sich auch ihre Annäherungen und Entfernungen in Bezug auf das Abstrakte und das Figürliche, als sie auch in den 1930er Jahren noch Akademien besuchte und Akte zeichnete.

Im Kreise des kleinen Zirkels der Avantgarde dieser Zeit waren ihre Anfänge vielversprechend. Léonce Rosenberg war der erste, der ihre Bilder gezeigt hat. 1925, in der Pariser Ausstellung „Art d‘Aujourd’hui" präsentiert sie zwei Gemälde, ein abstraktes und ein puristisches. 1926 nimmt sie an der Ausstellung der „Société Anonyme" teil mit einer Arbeit, die Marcel Duchamp ausgewählt hatte. 1930 wird sie von Michel Seuphor eingeladen, an „Cercle et Carré" teilzunehmen, einer Gruppe, deren Eklektizismus sie schätzt.

Allerdings hat sie keinerlei Sinn für die Karriere. Sie manifestiert eine dauerhafte Distanz zur Wirklichkeit, die kaum erklärbar ist, scheint keine andere Anerkennung zu akzeptieren als die der Künstlerkollegen: ihre Bescheidenheit, eine Einsamkeit, die sie mehr aus Zurückhaltung und Schüchternheit pflegt denn aus Menschenfeindlichkeit. Der Wille, sich nicht festzulegen und am Rande der Kunstszene zu verharren, entwickelt sich zu einem Nachteil, wenn es um die Verbreitung ihres Werks geht, das in Frankreich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der Tendenz der konstruktiven Kunst niemals wirklich anerkannt worden ist.

Marcelle Cahn bleibt eine nur schwer greifbare Persönlichkeit, so wie sie es zweifellos gewollt hat. Sie schwankte wohl immer zwischen der Kühnheit ihrer intellektuellen Überzeugungen, ja ihrer Leidenschaft und dem, was man vielleicht das Verhalten eines jungen Mädchens aus guter Gesellschaft nennen könnte. Wie sollte man sonst ihren Alleingang nach Berlin, mit nicht mehr als 19 Jahren, in das Atelier des deutschen Expressionisten Lovis Corinth, mit ihren dauernden Rückzügen nach Straßburg in den Schoß der Familie, weit entfernt von Künstlergruppen und Schulen, vereinbaren.

Nach dem Krieg nimmt sie regelmäßig am Salon des Réalités Nouvelles und an zahlreichen Gruppenausstellungen teil, aber sie zerstört häufig ihre Werke oder verschenkt sie an Besucher, an einen Freund, mit einer unschuldigen, wenn auch wunderbaren Großzügigkeit.Schließlich verhüllt sie die Fotografien, die ihr von solchen Werken geblieben sind, indem sie sie als Ausgangsmaterial für neue Arbeiten, Zeichnungen oder Collagen benutzt. Es gibt keine Schriften, in denen sie ihre Gedanken festgehalten hätte, obgleich ihre Privatkorrespondenz von einem unvergleichlich eleganten Schreibstil zeugt.

Die langjährige Freundschaft von Michel Seuphor, die Bewunderung und Hingabe, die ihr in den letzten 15 Jahren von Gottfried Honegger, Daniel Abadie und dem Autor dieser Linien zuteil geworden sind, haben zu etlichen Initiativen geführt, zu Ausstellungen, vor allem derjenigen des Centre National d’Art Contemporain, 1973, die durch mehrere französische Museen gewandert ist; zwei monumentale Werke konnten Dank eines öffentlichen Auftrags in Dijon und in Is-sur-Tille (Côte d’Or) noch am Ende ihres Lebens realisiert werden; nach ihrem Tode hat die Galerie Cahier d’Art ihr eine Hommage gewidmet. Alle diese Ausstellungen haben kein wirklich großes Gewicht gehabt.

… ein Katalog und eine große Ausstellung wären vonnöten, um Marcelle Cahn endlich den Platz zu geben, der ihr gebührt. Nicht auf dem ersten Rang, aber gleich dahinter, in einem Bereich, zu dem solche Maler wie Carel Fabritius oder Michael Sweerts gehören, die sowohl von Künstlern als auch von Kunstliebhabern geschätzt werden.

Serge Lemoine

Stadtrundgang « Auf den Spuren Marcelle Cahns in Straßburg » Klicken Sie hier. Das Büchlein « Rencontres avec Marcelle Cahn» ist herausgegeben. Klicken Sie hier.
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