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Marie Luise Syring

Augenzeugenbericht

Als ich sie 1976 kennen lernte, war sie schon 81 Jahre alt. Zu der Zeit wirkte sie so jung und voller Enthusiasmus auf mich, dass es mich kaum wunderte, dass sie noch arbeiten wollte. Heute erscheint mir das fast unglaublich. Es war Gottfried Honegger gewesen, ein Schweizer Künstler, der damals in Paris lebte, der mich zu ihr gebracht hatte, weil sie Hilfe brauchte.

Sie wohnte in der Fondation Galignani in Neuilly, einem Altersheim für Künstler, im Zimmer Nr. 10.

Jeder, der in dieses Altersheim zog, konnte seine eigenen Möbel mitbringen, wenn es dies wünschte. Marcelle Cahn hatte kaum noch Möbel, als sie hier ankam. Einerseits hatte sie alles, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, nach dem Krieg verkaufen müssen, andererseits mochte sie keinen bürgerlichen Nippes, wie sie immer sagte. Um sich zu erklären, hat sie mir eines Tages folgende Geschichte erzählt: Ein Freund war zu Besuch gekommen und hatte ihr Blumen mitgebracht. Sie steckte die Blumen in eine Vase und trug die Vase vor die Tür auf den Flur und meinte dann: man muss sich entscheiden, entweder man liebt das Dekorative oder man lebt in einer bescheidenen und nüchternen Umgebung.

Tatsächlich waren alle Dinge, die sie umgaben, von Nutzen für ihre Arbeit. Anstatt sich einen hübschen und gemütlichen Salon einzurichten, lebte sie immer noch wie im Atelier. Es gab dort drei Tische, vier Stühle, ein Bett, zwei Truhen und einen Eisschrank. Alles bedeckt von Arbeitsmaterial: Papier von jeder Art und Farbe, Kartons in allen Variationen, Klebeetiketten, Scheren, Schneidemesser, Kreiden, Bleistifte und Klebe. Große und kleine Schachteln überall, gefüllt mit allem, was man sich wünschen konnte, um Collagen herzustellen. Sie malte oder zeichnete nicht mehr, aber sie hatte immer Freude daran, aus diesen bescheidenen Dingen, über die sie verfügte, etwas zu schaffen.

Ich habe sie ein oder zwei Mal die Woche besucht und jedes Mal eingekauft, worum sie mich gebeten hatte: Toastbrot, Schinken, Medikamente oder Pralinen, aber vor allem Zeichenkarton und farbige Etiketten.

Ich bereite die Unterlage vor, sie verteilt zerschnittene Papiere oder auseinander gefaltete Medikamentenschachteln darauf, schiebt sie hierhin und dorthin, ich klebe sie auf, und sie beendet die Komposition, indem sie einige kleine Kreise oder Rechtecke hinzufügt.

Ich schreibe die Listen und trage die neuen Miniaturen in die Galerie Denise René. Von Zeit zu Zeit erzählt sie mir von ihren Künstlerfreundinnen, Sonja Delaunay, Nadja Léger, Sophie Taeuber-Arp.

Manchmal erzählt sie mir ihr Leben, in einem Tonfall ohne Groll und ohne Illusionen.

Marie Luise Syring
2009

Stadtrundgang « Auf den Spuren Marcelle Cahns in Straßburg » Klicken Sie hier. Das Büchlein « Rencontres avec Marcelle Cahn» ist herausgegeben. Klicken Sie hier.
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