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Meine Begegnung mit Marcelle Cahn. 1971


Ich war zwanzig Jahre alt und lebte in Paris. Meine erste Berufstätigkeit bestand darin, für die Zeitschrift Opus International zu schreiben. Ich sollte über Ausstellungen berichten. Ich weiß noch, dass ich kein Geld hatte, weder für Metrofahrkarten noch für Briefmarken, also ging ich zu Fuß von meinem Zimmer im 14. Arrondissement bis zum Boulevard Saint-Germain. Nachdem meine Artikel getippt waren, brachte ich sie selbst zum Redakteur, Gérald Gassiot-Talabot, ins Büro des Guide Bleu in der Nähe vom Châtelet.

Der Text über Marcelle Cahn ist einer der ersten, die ich überhaupt geschrieben habe. Aus diesem Jahr erinnere ich mich nur noch an ihre Ausstellung und an die von Louis Pons in der Galerie Point Cardinal. Als ich durch die Galerie ging, war ich von den Collagen Marcelle Cahns ganz begeistert. Sie schienen fragil und stark zugleich. Obwohl sie so klein waren, hatten sie doch eine große Ausstrahlung. Ganz spontan entschloss ich mich, über die Ausstellung zu schreiben. Heute verstehe ich, dass diese beiden Künstler, Marcelle Cahn und Louis Pons, obgleich extrem verschieden in Stil und Material, ganz und gar unabhängige Persönlichkeiten gewesen sind, die sich vom Strom der Kunsttendenzen ferngehalten und ein ebenso einsames wie kompromissloses Leben geführt haben.

Ich hatte das Buch von Herta Wescher über die Collagen gelesen (1), in dem Beispiele früher Collagen und zahlreiche Werke der Dadaisten, Surrealisten und Konstruktivisten abgebildet waren. Ich glaube, Marcelle Cahn war nicht dabei. Was mich aber gerade bei ihr beeindruckte, war die Gabe, den  bescheidensten und alltäglichsten Dingen, die wir gerade in der Tasche haben und am Ende des Tages wegschmeißen, etwas Poetisches abzugewinnen. Wie ich selbst, war sie fasziniert von altem Papier, von Karopapier, von Etiketten und Klebstreifen.

Ich war vor allen Dingen irritiert davon, dass sie auch das Einschlagpapier von Metzgern benutzte, das fein und leicht glänzend war und dazu diente, Fleisch einzupacken. Wenige Tage nach dem Erscheinen von Opus International erhielt ich einen Anruf der Galerie Point Cardinal. Man gab mir die Telefonnummer von Marcelle Cahn, weil sie darum gebeten hatte, dass ich sie anriefe. Dann fuhr ich in ihr Zimmeratelier in Neuilly-sur-Seine, sehr eingeschüchtert, aber sie sorgte dafür, dass ich mich wohl fühlte.

Sie hatte sehr feines, graues Haar, das sie nach hinten gekämmt trug, einen weichen Blick hinter ihren Brillengläsern, einen besonderen Sinn für Humor. Sie sagte mir, mein Artikel habe sie sehr berührt (2), seit langem habe niemand mehr über sie geschrieben. Sie fühlte sich vergessen. Ihre Stimme war voller Emotion…ich verstand sehr wohl, dass sie bescheiden war und nicht nach Ruhm strebte, aber doch wollte, dass ihre Arbeit, die sie seit so vielen Jahren machte, anerkannt würde und einen Platz in der Kunstgeschichte erhielte. Ich war überrascht und glücklich darüber, dass meine wenigen Zeilen bei der Künstlerin solch einen Eindruck hinterlassen hatten. Das war sehr ermutigend für meine schwierige Aufgabe, die der Kunstkritikerin.

Soweit ich mich erinnere, war ihr Atelier klein und aufgeräumt. Auf einem großen Tisch lag ein Haufen verschiedener Papiere, in Blau, Braun und Beige, keine lebhaften Farben, Papiere unterschiedlicher Dicke und Textur, Klebzettel, Etiketten, Metrotickets, Postkarten. Um sie herum eine Menge Regale mit vielen Büchern, soweit ich weiß. Auf dem Tisch lag eine Mappe mit zahlreichen Collagen. Eine davon, auf Metzgerpapier geklebt, hat sie herausgezogen und mir geschenkt. Ich war hingerissen von ihrer Großzügigkeit. Schließlich hatte ich nur einen ganz kurzen Artikel verfasst. Ihr Geschenk hat mir große Freude gemacht. Es war der Beginn einer Sammlung von Fotografien und Zeichnungen, die ich im Laufe der Jahre dank meiner Begegnungen mit Künstlern zusammengetragen habe. Ich bedauere, dass ich sie danach nie mehr besucht habe.

Carole Naggar
http://carolenaggar.com/

(1) WESCHER Herta. Die Collage, Geschichte eines künstlerischen Ausdrucksmittels. Köln, Du Mont Schauberg, 1968 und WESCHER Herta. Collage. Ed. Hardcover, 1971.
(2) Siehe "Actualités" in  Opus International, Paris, Dezember 1971, Nr. 29-30.

Stadtrundgang « Auf den Spuren Marcelle Cahns in Straßburg » Klicken Sie hier. Das Büchlein « Rencontres avec Marcelle Cahn» ist herausgegeben. Klicken Sie hier.
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